EU und Türkei: Zeit für Ehrlichkeit
Ein türkischer EU-Beitritt ist auf absehbare Zeit undenkbar. Dennoch ist es richtig, so lange wie möglich weiterhin darüber zu verhandeln.
Wir müssen ab und zu aus dem Strom der Zeitläufte ans Ufer klettern, um festzustellen, dass alles im Fluss ist“, sagte der türkische Außenminister Ahmet Davuto?lu jüngst in Brüssel. Das trifft zweifellos auf sein Land zu, das sich in rechtlicher und gesellschaftlicher Sicht Westeuropa nähert. Es gibt heute mehrere Behörden, die sich dem Schutz der Bürgerrechte widmen, der berüchtigte Paragraf 301 des Strafgesetzbuches wird nicht mehr verwendet, um jede Meinungsäußerung niederzubügeln, und zaghaft, aber doch wird die unbotmäßige Macht der Generäle eingedämmt. „Es gibt eine zunehmend offene und freie Debatte in der türkischen Gesellschaft“, hält die EU-Kommission fest.
Hätte eine sich modernisierende Türkei all dies ohnehin getan? Oder hat die Aussicht auf einen EU-Beitritt dies bewirkt? Hinderlich ist sie wohl nicht. Doch noch liegt vieles im Argen. Reaktionäre berufen sich auf andere Paragrafen, um kritische Stimmen zum Verstummen zu bringen. Der Kampf gegen Kinderarbeit ist erlahmt. Homosexualität gilt der Armee als psychische Krankheit.
Niemand glaubt ernsthaft, dass die Türkei in absehbarer Zeit ein EU-Mitglied wird – weder in Brüssel noch in Ankara. Doch solange diese Verhandlungen Reformen in der Türkei bewirken, sollte die EU sie fortsetzen. Im eigenen Interesse – und im Interesse der Bürger eines ihrer wichtigsten politischen und wirtschaftlichen Partner.
quelle: Oliver Grimm - Die Presse
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