Freitag, 20. November 2009

Abhörrepublik Türkei

Von Kai Strittmatter, Konstantinopel (Istanbul)

In der Türkei werden jährlich 70.000 Bürger belauscht - unter ihnen Richter, Abgeordnete, Staatsanwälte und sogar der Premierminister.
Man trifft hier Journalisten, die bei jedem wichtigen Treffen dasHandy ausschalten. Das, sagen Experten, reiche jedoch nicht: Auch überdas ausgeschaltete Handy kann ein Profi mitlauschen. Der IstanbulerKrämer, der dem Lehrling das Handy in die Hand drückt und ihn aus demLaden schickt, bevor er über die Politik schimpft, ist da schon klüger. Ebenfalls sicher ist die Methode, die der deutsche Diplomat ausAnkara empfiehlt: Einfach den Akku rausnehmen. Aber warum das alles?Weil, so sieht das zum Beispiel die Zeitung Hürriyet, das Land sich in "ein Land der Riesenohren" verwandelt habe: "Willkommen in der Abhörrepublik Türkei."

Der lockere Umgang der Türkei mit der Privatsphäre ihrer Bürger istnichts Neues, doch haben die Ereignisse der letzten Woche neues Feuerin der Debatte entfacht. Da nämlich kam heraus, dass die Richter desObersten Berufungsgerichts abgehört wurden. Außerdem ein Richter, derStaatspräsident Abdullah Gül - wohl zu Unrecht - einenKorruptionsprozess anhängen wollte.
Und zu guter Letzt derOberste Staatsanwalt von Istanbul. Hinter den Abhöraktionen stecktenInspektoren des Justizministeriums, die in Sachen "Ergenekon"ermittelten. Das Verfahren ist ein Jahrhundertprozess, in dem einemNetzwerk von Putschisten und ultranationalistischen Verschwörern derGaraus gemacht werden soll. Die Lauscher flogen auf, als sie in einemAntrag ans Istanbuler 11. Strafgericht darum baten, die Abhörerlaubnisfür weitere drei Monate zu verlängern.


Für die Opposition waren die Enthüllungen eingefundenes Fressen: Sie versucht ohnehin, die Ergenekon-Ermittlungenals Rachefeldzug der Regierung gegen ihre Kritiker zu diskreditieren,was ihr nicht leicht fällt, seit sogar der ehemalige GeneralstabschefHilmi Özkök über Möchtegern-Putschisten in den Reihen der Armeeausgesagt hat. Die Abhörenthüllungen aber bringen die Regierung nun inVerlegenheit, zumal die erste Verteidigung recht schwach war: DerJustizminister sagte, seine Beamten hätten sich schließlich einenGerichtsbeschluss geholt. Aber darf ein einfaches Istanbuler Gerichtwirklich das Abhören der Obersten Richter in Ankara anordnen? Ebensodürftig der Einwurf von Fethi Simsek, dem Chef derTelekommunikationsbehörde: Ja, man habe die Telefonanlage im OberstenGericht angezapft, aber es bestehe kein Grund zur Beunruhigung - ein"technischer Fehler" habe verhindert, dass wirklich abgehört wurde.

"So weit ist es gekommen"

AmMontag schließlich stieg Premier Tayyip Erdogan in den Ring, nichtzuletzt, weil es Gerüchte gibt, dass seine Gegenspieler wieder Materialsammeln für ein mögliches Verbotsverfahren gegen die RegierungsparteiAKP. Er beteuerte erstens, seine Regierung habe stets "im Rahmen desGesetzes" gehandelt und gab zweitens bekannt, dass er selbst dieletzten sechs Jahre lang abgehört wurde.
Tatsächlich hat die Polizei vor wenigen Wochen in den Büroräumen der linksnationalistischen Zeitschrift Aydinlikeinen ganzen Stapel von Abhörprotokollen gefunden, darunter Gesprächedes Premiers und anderer Kabinettsmitglieder. Der Chefredakteur vonAydinlik wurde daraufhin von den Ergenekon-Ermittlern festgenommen. "Soweit ist es gekommen", sagte der ehemalige Staatspräsident SüleymanDemirel: "Jede Institution des Staates hört jede andere ab."
"DieÖffentlichkeit ist nervös und unsicher", sagte Justizminister MehmetAli Sahin schon im März dem Sender NTV. Er sprach über die Tatsache,dass Schauspieler, Politiker oder Geschäftsleute ständig damit rechnenmüssen, Abhörprotokolle ihrer Gespräche in der Presse zu lesen. "Ichglaube nicht, dass irgendein Gericht bei diesen Leuten das Abhörengenehmigt hat", sagte der Minister. Die Regierung will nun die Strafenfür illegales Abhören verschärfen.

"Was für eine Schande"

DieWellen, die der neue Skandal schlägt, zeigen, dass viele Bürger ebensobeunruhigt, was legal geschieht. "Die Türkei hat noch immer ein Problemmit Bürgerrechten", sagt Öztürk Türkdogan vom Menschenrechtsverein IHDin Ankara: "Eigentlich sollte man nur in Ausnahmefällen und bei starkemVerdacht abhören. Hier aber ist Abhören Alltag." Justizminister Sahinsagt, in der Türkei würden im Jahr 70000 Telefone abgehört, bei 72Millionen Einwohnern sei das "europäischer Standard". Die Behauptungist falsch: In Deutschland wurde 2008 16500 Mal abgehört. Und erst imvergangenen Jahr hatte die Türken die Enthüllung erschüttert, dassgleich drei Geheimdienste die offizielle Befugnis hatten, sämtlicheKommunikation und jeden Bürger im Land flächendeckend abzuhören, ohnesich dafür im Einzelfall eine richterliche Erlaubnis holen zu müssen -das 11. Strafgericht in Ankara erteilte den Lauschern alle drei Monateeinen Blankoscheck für die nächsten Monate.
"Was für eineSchande", empört sich nun Expräsident Demirel: "Die Türken haben nunAngst vor dem Gebrauch einer der zivilisatorischen Errungenschaften derWelt, dem Telefon." In der Zeitung Milliyet zuckt der KolumnistHasan Pulur derweil mit den Schultern: "In unserem Land werden dieTelefone doch seit 1000 Jahren abgehört", schreibt er: Dann erinnert eran die Zeit, da der heute so empörte Demirel selbst in den 60er JahrenPremierminister war. Damals ist seinem Innenminister Faruk Sükan derSatz rausgerutscht: Wir hören die Linken sogar schnaufen."

quelle: Sueddeutsche

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