Dienstag, 29. September 2009

Wahlanalyse Deutschland

Die Volksparteien müssen zittern. Union und SPD haben bei der Wahl herbe Stimmenverluste hinnehmen müssen. Die führenden Meinungsforscher warnen vor einer ungemütlichen Zukunft.
(Von FOCUS-Online-Redakteurin Christina Otten, Berlin)

Es gab nur einen Gewinner am Wahlabend – und der heißt FDP. Alle anderen Parteien müssen ihre Wunden lecken. Am Tag danach ziehen die führenden Meinungsforscher Bilanz. Ihr Fazit: SPD und Union haben sich von ihren traditionellen Wählerschichten entfernt, die Bindungskraft der Volksparteien sinkt dramatisch, die SPD ist in einer existenziellen Krise, und die Bürger haben ihr Kreuz so taktisch gesetzt wie nie zuvor.

„Die große Koalition hat beiden Volksparteien nicht gut getan“, resümiert Renate Köcher vom Allensbach-Institut in der traditionellen Analyserunde im Bundespresseamt in Berlin. Vor allem bei den SPD-Wählern diagnostiziert sie eine „Auszehrung“ nach den Einschnitten der Schröder-Reformen und der Rolle des Junior-Partners bei Schwarz-Rot in den vergangenen vier Jahren. „Damit konnte sich ein großer Teil der SPD-Anhänger nicht identifizieren“, sagt Köcher.

Die Schwäche der Union sieht sie vor allem in der Stärke der Liberalen. Zwei Punkte hätten zum fulminanten Aufstieg der FDP beigetragen: erstens die steigenden Sympathiewerte für den klaren Kurs von Parteichef Guido Westerwelle, zweitens der erhebliche Anteil von CDU- und CSU-Unterstützern, die mit ihrer Stimme für die Gelben sicher gehen wollten, dass die Union in eine bürgerliche Koalition steuert. „Das strategische Wählen hat dieses Mal eine enorme Rolle gespielt.

„Müntefering ist entzaubert worden“

Richard Hilmer von Infratest dimap und Manfred Güllner von Forsa betonen die ernste Lage für die Sozialdemokraten. „Franz Müntefering ist entzaubert worden“, sagt Güllner. Er zeichnet ein dramatisches Bild der Partei. Nur noch 16 von 100 Wählern hätten für die SPD gestimmt. Güllner nennt eine ganze Reihe von Fehlern: Andrea Ypsilanti in Hessen, Gesine Schwan als Bundespräsidentschaftskandidatin. „Da hat doch jeder Wähler gemerkt, dass diese beiden nur auf einem Egotrip waren und die SPD hilflos zusah.“ Als „absolut hirnrissig“ bezeichnet Güllner zudem die Plakatkampagne der Genossen.

Alarmierend für die SPD sei auch die Tatsache, dass rote Wählerströme in alle Richtungen gingen. Hilmer von Infratest: „SPD-Stimmen wanderten sowohl zur Linken als auch zur FDP. Hartz IV und die Rente mit 67 haben ihre Spuren hinterlassen.“ Und Güllner merkt angesichts des Überlaufens vieler SPD-Anhänger ins bürgerliche Lager an, von einem Linksruck in Deutschland könne nun keine Rede mehr sein.

Der „Blutzoll“ der Union

Das Fiasko der SPD hatte Matthias Jung von der Forschungsgruppe Wahlen bereits zwei Tage vor der Wahl vorausgesagt – und sorgte auch für Aufsehen unter den Meinungsforschern. Denn damit hatte er die indirekt Absprache unter den Instituten gebrochen, unmittelbar vor dem Urnengang keine Prognosewerte mehr zu kommentieren. In der Analyse sieht sich Jung indes bestätigt. „Das Problem der SPD ist offensichtlich“, sagt er. Für die Union stehe dagegen die Probe noch aus. Der „Blutzoll“, den Kanzlerin Angela Merkel für ihren Wahlsieg zahlen musste, sei die Stimmenwanderung hin zur FDP.

Allerdings habe erst der viel gescholtene Watte-Wahlkampf der Kanzlerin auch möglich gemacht, dass die schwarz-gelbe Mehrheit am Ende so deutlich ausfiel, betont Jung. „Merkel hat die Union durch die Betonung des Sozialen mehr zur Mitte hin geöffnet“, sagt er. „2005 waren sich FDP und CDU programmatisch noch viel zu ähnlich. 2009 ergibt sich nun ein ganz anderes Bild.“

Merkels Frauenbonus

Auch Hilmer meint, dass Merkels Strategie am Ende „gar nicht so falsch war“. Die Auswertung der Stimmenverteilung zeige, dass sie im Süden aufgrund der taktischen Wähler an die FDP verloren, dafür aber im Osten gewonnen habe. Und: Deutlich mehr Frauen wählten dieses Mal die CDU – aber weniger Männer. „Ein Merkel-Effekt.“

Alle Meinungsforscher betonen in ihrem Fazit die hohe Zahl der Nichtwähler. „Hier haben wir einen traurigen Negativrekord“, sagt Güllner. Die Zahl der Wahlverweigerer sei nun größer als im Jahr 1949, als sich das politische System der Bundesrepublik etablierte. „Das ist ein gefährlicher Vertrauensverlust.“

Einen Zusammenhang sehen die Institute übereinstimmend in der sinkenden Bindekraft der beiden Volksparteien. Ihre Zukunft stehe nun auf des Messers Schneide. „Sie müssen sehr aufpassen, dass sie sich nicht in inneren Querelen verlieren“, mahnen die Demoskopen. Es ist nicht nur ein Fingerzeig für die SPD, sondern auch für die CSU. „Da lief es im letzten Jahr ja auch nicht immer glatt“, sagt Köcher.

Quelle: Focus

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